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Genie der Selbstverwertung

Die Briefe und Tagebücher des Henri-Frédéric Amiel (1821-1881)

Hans Peter Treichler
(Zürichsee-Zeitung (Stäfa), 10 januar 2005, s. 19)


Der Genfer Gelehrte war ein Meister des knappen Worts, aber auch ein ausufernder Tagebuch- und Briefeschreiber. Beide Textarten werden heute neu gelesen und interpretiert von einem wachsenden Zirkel verschworener amiéliens.

Von Amiel stammen so schöne knappe Formeln wie Rien ne réussit comme le succès oder «Ein Irrtum ist um so gefährlicher, je mehr Anteile an Wahrheit er enthält» – Maximen, die um 1900 in den Zitatenschatz der Abreisskalender eingingen. Er prägte die Binsenwahrheit «Man ist so alt, wie man sich fühlt», ebenso das viel zitierte Un paysage quelconque est un état de l’âme.

Aber bis vor wenigen Jahren galt der Philosophiedozent und Gelegenheitsdichter Amiel als calvinistischer Stadtneurotiker, der über seiner permanenten Selbstbeobachtung und –betätschelung das eigene Leben versäumte. Man kannte seine in Auszügen erschienenen Tagebücher mit den eingesprengten Aphorismen. Man wusste, dass Tolstoi, Hofmannsthal oder Gide dem eingefleischten Eigenbrötler ausführliche Betrachtungen gewidmet hatten. Andere rühmten Amiel als Pionier der Individualpsychologie. Nur deshalb sei er verkannt geblieben, weil er seinen unermesslichen Schatz an menschlichen Einsichten auf kein verbindliches System auszurichten verstand.

Neil Armstrong des Cyberspace

Heute, nachdem Amiels über mehr als dreissig Jahre hinweg geführtes Journal Intime in einer zwölfbändigen Ausgabe vorliegt*, hat sich die Optik verschoben. Tout en moi est virtuel, notierte der schüchtern-charmante Grübler am 16. Februar 1855 – ein Satz, der den Jägern der virtuellen Gegenwelt nicht entgangen ist. «Amiel hat sich einen Doppelgänger auf Papier geschaffen», gibt einer seiner Anhänger im Net zu bedenken, «so wie das Internet eine Gegenwelt zur Wirklichkeit entwirft. Das könnte ihn zum Neil Armstrong des Cyberspace machen.» Seit 1996 versucht der Happening-Künstler Gérard Collin, diese Gegenwelt schreibend nachzuvollziehen: Mit Feder und Tinte kopiert er, in einem «Prozess fortlaufender Verjüngung», die 16'900 Seiten des Tagebuchs; 2044 soll die Arbeit abgeschlossen sein.

Das meistveröffentlichte Porträt zeigt den 40jährigen Amiel als eine Art Westschweizer Raskolnikow mit finster glühendem Blick. Dabei stammte der stets gutgekleidete Genfer aus gutbürgerlichen Kreisen, hatte allerdings eine bewegte Jugend hinter sich. Seine Mutter erlag schon früh der Tuberkulose. Zwei Jahre später ertränkte sich der Vater in der Rhone; die Kinder wuchsen bei Verwandten auf. Aber Amiel, so scheint es vorerst, verarbeitet die schmerzlichen Jugenderfahrungen auf ausgedehnten Reisen. Es folgen Studienjahre in Deutschland; um 1850 erhält der junge Doktor der Philosophie eine Professur an der Genfer Akademie und führt fortan ein unauffälliges Leben als Dozent und Vorstand akademischer und künstlerischer Vereine. Am bekanntesten wird der friedliebende Bücherwurm ausgerechnet als Dichter des Kriegslieds Roulez, tambours! Die zündende Melodie, ebenfalls von ihm stammend, wird bis heute bei eidgenössischen Manövern gespielt und fand Eingang ins internationale Repertoire der Militärmusik, ertönte beispielsweise im Frühling 1945, als russische Panzer ins kriegsverwüstete Berlin rollten …

Die Affäre Louise Wyder

Konkret werden die säuberlich vom Autor numerierten und datierten Hefte heute aufbewahrt in der Genfer Universitätsbibliothek, zusammen mit unzähligen Briefen – gerichtet an Kollegen, Verwandte und an die wechselnden Partnerinnen seiner zahlreichen Liebschaften.
Wobei «Liebschaft» nur als Behelfsbegriff gelten kann. Gerade die kürzlich erschienene Untersuchung «Egérie» ** über Amiels Begegnung mit der zwei Jahre jüngeren Hauslehrerin Louise Wyder demonstriert, dass Amiel in seinen Beziehungen zu Frauen zwar den ganzen Quintenzirkel von Zärtlichkeit und innigem Austausch von Gedanken und Gefühlen durchspielte. Für Leidenschaft, Hingabe oder Eifersucht hingegen war kein Platz. Zu einer sexuellen Begegnung (Amiels erster, im Alter von 38 Jahren) kam es einzig mit Marie Favre, einer Genfer Kaufmannswitwe. Sie rückte in den folgenden Jahren zur prima inter pares in einem Zirkel schwärmerischer Bewunderinnen auf. Amiel verpasste den Frauen dieses platonischen Harems «klassische» Namen wie Philine, Seriosa oder Titania; man traf sich paarweise oder in kleinen Grüppchen zu idyllischen Wochenenden im Grünen.

Louise Wyder war Egeria. Ihre gemeinsame Geschichte begann 1848 in Berlin mit einem neckischen Pfänderspiel und endete mit der totalen Demütigung von Louise, die ihre langjährigen Hoffnungen auf eine Zukunft als Gattin Amiels im Dezember 1860 endgültig begraben musste. Der Gefühlsparcours der dazwischenliegenden zwölf Jahre lässt sich in den kommentierten Auszügen aus Briefen und Tagebüchern von «Egérie» bis in die feinsten Schnörkel verfolgen. Obwohl Amiel jede einzelne Begegnung im Eintrag des nächsten Tages analysiert und seziert, obwohl er seine und Louises Gefühle oder die mehrfach gedanklich durchgespielte Möglichkeit einer Ehe auf unzähligen Seiten regelrecht dekonstruiert, bleibt die Beziehung über mehr als ein Jahrzehnt lang am Leben. Im Tagebuch notiert Amiel etwa die «geheime Peinlichkeit» eines gemeinsam verbrachten Nachmittags, der sich vorab um die «Gefühlchen» der Freundin dreht: «Wenn sich das Gemüt bei ihr erholt hat, muss man sein Denken anderwärts auffrischen.» Trotzdem bleiben für ihn die bewundernde Liebe Louises, ihre vollkommene Abhängigkeit von seiner Person und die damit verbundenen Machtgefühle eine emotionelle Droge: «Wie reinigend wirkt dieses durchdringende, unverwässerte Gefühl auf mich!»

Aber die angestrebte Freundschaft zwischen Mann und Frau verstösst nicht nur gegen die gesellschaftlichen Konventionen. Sie wird auch Louise immer wieder zu eng. Ab und zu muckt sie auf gegen die Einschränkungen, nennt Amiel barsch beim Studentennamen aus alten Berliner Tagen: «Hören Sie, Fritz, nennen Sie mich nie mehr ‚kleine Schwester‘. Ich verlange keine bestimmte Anrede, aber wenigstens die will ich nicht hören.»

Mehrmals bricht Amiel zu längeren Reisen auf, wenn sich eine Krise anbahnt. Eine davon, im Herbst 1854, führt nach Zürich. Die Stadt gefällt ihm ausnehmend gut: «Alles hier ist lachend, tätig, aufgeklärt (…) überall Grün in jeder Beziehung; es herrscht Ordnung ohne tote Symmetrie. Hier würde ich gerne leben.» Aber statt aus dem für ihn erstickenden Genfer Klima in die «fleissige und geistvolle» Stadt zu ziehen, kehrt Amiel an den Léman zurück, wo er die Freundin brieflich auf Armlänge zu halten versucht.

Schliesslich ist es Wyder selbst, die sich aus dem emotionellen Hochdruck befreit, indem sie eine Gouvernantenstelle in England antritt. Unbegreiflicherweise knüpft Amiel vier Jahre später, nach Louises Rückkehr, praktisch am gleichen Ort wieder an: erneute Spaziergänge und erneute trauliche Treffs, wiederum Tränen und stille Vorwürfe: ein unseliger Doublebind, bei dem der beschwichtigende Freund mit seinen einfühlenden Trostworten nur wieder neue Gefühlsströme weckt. Es kommt Ende 1860 zum demütigenden Bruch. Amiel führt, als lahmsten aller Vorwände, die wackligen Finanzen eines allfälligen zukünftigen Haushalts ins Feld: Louise verfügt über keine Mitgift! Worauf sie darum bittet, mit ihm zusammen das Budget durchzurechnen und auf ihre persönliche Sparsamkeit hinweist: «Für Kleider habe ich in den letzten zwei Jahren keine fünfzig Francs ausgegeben!»

Als auch diees Argument nicht zieht, folgen Vorwürfe und Vorhaltungen im Stil Das-muss-jetzt-aber-auch-mal-gesagt-sein. Was die gesellschaftliche Stellung betreffe, so Wyder, sei dann noch fraglich, ob ihr eigener Vater oder jener Amiels mehr Ansehen genossen habe: eine hässliche Anspielung auf den Selbstmord von Jean-Henri Amiel! Zudem habe «Fritz» nie miterlebt, wie seine Freunde, «ja Ihre Nächsten» in seiner Abwesenheit über ihn sprächen: falsch, stolz, anmassend und pedantisch werde er genannt, «ein kalter, harter, herzloser Mann». Sie selbst, Louise, habe in solchen Momenten gelitten, aber aus Gründen der Diskretion nichts zu seiner Verteidigung vorzubringen gewagt.

Amiel begnügt sich in seiner brieflichen Duplik mit einem weiteren lahmen Sophismus: Wenn sich Louise mit diesem Kropfleeren Erleichterung verschafft habe, so freue er sich für sie …

Jedermann findet Jedefrau

Die mehrjährige Wyder-Episode widerspiegelt ganz allgemein Amiels Verhältnis zu den Frauen, bei dem Vorbehalte, Ängste und Zweifel jegliche Spontaneität ersticken. Jeder Lebensimpuls, jegliche Begeisterung wird verwässert beim abendlichen Niederschreiben, mit Ausnahme gelegentlicher Schwärmereien über eine gemeinsam erlebte malerische Abendlandschaft. Bei der immer wieder neu angebahnten Suche nach der passenden Ehepartnerin stand sich Amiel meist selbst auf den Füssen. Verspürte er in Gegenwart einer «passenden» Bürgerstochter das leiseste Kribbeln der Anziehungskraft, befreite er sich «durch Umschwenken auf eine Andere (…); ich biete alle Frauen auf gegen diejenige, die mein Herz zu sehr berührt.» Dies etwa im Falle von Sara Cherbuliez, die alle Voraussetzungen zu erfüllen schien – lebhaft, attraktiv, «gute» Familie und dem jungen Herrn Professor durchaus zugetan. Amiel vertändelte so viel Zeit mit der Evaluation weiterer, womöglich noch besser passender Kandidatinnen, dass er den richtigen Augenblick für einen Antrag verpasste; einige Wochen später war Sara «vergeben».

Chacun trouve sa chacune, notierte er beim Empfang solcher Verlobungsanzeigen verbittert im Tagebuch: Jedermann findet seine Jedefrau, nur ich nicht. Der einleitende Teil von «Egérie» listet diese verpatzten Herzensangelegenheiten erbarmungslos auf – bis hin zur fast schon lächerlichen Episode mit der Pfarrerstochter Anna Droin. Amiel ist bereits 43, als er ihr einen Antrag macht. Will er noch eine Familie gründen, so scheint ihm, ist jetzt höchste Zeit dazu. Aber die gutherzige Anna erschrickt über die hochgeschraubten Ansprüche des Bräutigams; dieser realisiert seinerseits, dasss er die stille Art der Braut allzu optimistisch als Ausdruck abgeklärter Weisheit wahrnahm: «Herz aus Gold, Verstand aus Messing» …

Es wäre allzu schön, wenn sich dieses Ungemach in Herzensdingen darstellen liesse als Kehrseite eines genial-schöpferischen Wesens. Aber Amiel veröffentlichte zu Lebzeiten gerade einmal drei Lyrikbände mit mittelmässigen Reimereien. Im Tagebuch forderte er sich selbst immer wieder dazu auf, endlich die gesammelten Notizen einer Vorlesung zu einem kulturhistorischen Standardwerk zu bündeln, zum grand oeuvre, mit dem er einen Platz in der Geschichte finden würde. Regelmässig erscheinen Tabellen, in denen er sich selbst zur systematischen Arbeit auffordert, Stundenpläne für einen fleissigen Normaltag entwirft und seine Nah-, Mittel- und Fernziele definiert.

Willensschwäche

Aber Amiel hält die eigene Agenda nie länger als ein paar Tage ein. Wo es eine vorgegebene Form wie Essay oder Gedicht oder Vorlesung zu erfüllen gilt, verliert er den Schwung: «Es ist zum Verwundern, und es hat mit meinem vollständigen Misstrauen mir selbst gegenüber zu tun. Ich streiche durch, ich radiere (…). Mein kleines Talent ist eine Säure, die sich selbst angreift.»

Diesen Punkt betont Leo Tolstoi, der wohl schwergewichtigste Bewunderer des Genfers. Was von Amiel im Druck erschien, sei «tot». Nur im Tagebuch, das sich an niemanden richte, sei alles «voller Leben, Weisheit und Trost». So hingerissen war Tolstoi von einer Blütenlese aus dem Journal Intime, dass er eine seiner Töchter mit der Übersetzung beauftragte und der russischen Ausgabe eine zündende Einleitung vorausschickte.

Tolstois Auswahl, vor kurzem auf Deutsch wieder erschienen***, widerspiegelt die ungeheure Resonanz, die Amiel schon wenige Jahre nach seinem Tod fand. Der Mann, der sich ein Leben lang erfolglos ein bedeutendes Werk abgefordert hatte, erntete posthumen Ruhm mit den wenigen hundert Auswahlseiten der 1883 veröffentlichten Fragments d’un journal intime. Die Pariser Ausgabe wurde innert weniger Jahre vier Mal neu aufgelegt; Übersetzungen erschienen in praktisch allen europäischen Sprachen. Nothing succeeds like success – es heisst bloss, lange genug zu leben.

Paralleluniversum: das Tagebuch

Ab 1848 führte Amiel ein Tagebuch, das bis an sein Lebensende auf 169 Hefte zu hundert Seiten anwuchs. Er notierte fast täglich Erlebtes und Gedachtes und verknüpfte diese Einträge mit früheren Passagen, die ihrerseits annotiert wurden mit nach «vorne» führenden Verweisen. Dazu lieh er einzelne Hefte an Freundinnen aus und trug deren Rückmeldung in das aktuelle Befindlichkeitsnotat ein. Diese teilnehmende Lektüre ergab den emotionellen Drehpunkt der Beziehung, die mit zahlreichen Briefen weiter entwickelt wurde.

Korrespondierend und tagebuchschreibend schuf sich Amiel so eine Gegenwelt zur Alltagswirklichkeit – ein Wortgefängnis, in dem er als Häftling und Wärter zugleich lebte. Es schloss als eine Art Paralleluniversum nicht nur ihn selbst als Beobachter und handelnde Instanz ein, sondern auch die teilnehmenden Leserinnen: eine komplizierte Versuchsanordnung, die sich mit ihren vielfältigen Rück- und Querbezügen durchaus einer vielfach verlinkten Website vergleichen lässt.



* Henri-Frédéric Amiel: Journal Intime. Hrsg. Bernard Gagnebin und Philippe M. Monnier. 12 Bände, Lausanne 1976ff. (Editions L’age d’homme)
** Egérie. Briefwechsel Henri-Frédéric Amiel – Louise Wyder. Hrsg. Louis Vannieuwenborgh und André Leroy. Lausanne 2004 (Editions L’age d’homme)
*** Henri-Frédéric Amiel: Tag für Tag. Textauswahl und Vorwort Leo Tolstoi. Hrsg. Felix Philipp Ingold. Zürich 2003 (Pendo Verlag)

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